„Den Patienten gehen die Antibiotika-Optionen aus”
Bakterien und andere Krankheitserreger entwickeln zunehmend Resistenzen gegen antimikrobielle Mittel. Dr. Lauri Hicks vom CDC hat ihre Karriere... weiterlesen
Die Zahl ist deutlich höher als bisher angenommen: Rund 33.000 Europäer sterben jedes Jahr infolge von bakteriellen Infektionen. Hauptgrund: Gegen viele der Infektionen helfen keine Antibiotika mehr. Gegen knapp 40 Prozent aller in einer Studie untersuchten Infektionen konnten sogar Reserveantibiotika nichts mehr ausrichten.
„Infektionen durch antibiotikaresistente Bakterien bedrohen das moderne Gesundheitswesen.“ Das schreiben die Autoren um Dr. Alessandro Cassini vom Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC, einer Organisation der EU) in Solna, Schweden, im Fachmagazin „The Lancet Infectious Diseases“1. Sie haben die Studie über Infektionen und Todesfälle durch antibiotikaresistente Bakterien durchgeführt. „Die Schätzung von Häufigkeit, Komplikationen und der damit verbundenen Sterblichkeit ist jedoch eine Herausforderung.“
Die bisherigen Annahmen dazu beruhten auf Zahlen von 2007. Damals starben etwa 25.000 Menschen in Europa an den Folgen einer Infektion mit multiresistenten Erregern. Für die aktuelle Auswertung haben die Wissenschaftler neuere Daten eines europäischen Netzwerks zur Beobachtung antimikrobieller Resistenzen (EARS-Net) aus dem Jahr 2015 ausgewertet.
Das Wissenschaftlerteam analysierte die Daten von acht verschiedenen Bakterienarten, die Resistenzen gegen unterschiedliche Antibiotika und gegen antibiotische Kombi-Präparate aufweisen: Acinetobacter spp, Enterococcus faecalis, Enterococcus faecium, Escherichia coli, Klebsiella, Pseudomonas aeruginosa, Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus (MRSA) und Streptococcus pneumoniae. Die Keime verursachen unter anderem Harn- und Atemwegsinfekte, Infektionen der Blutbahn und an Operationswunden. Die Wissenschaftler gehen nun von etwa 8.000 Toten mehr pro Jahr aus.
Zusätzlich haben sie die sogenannte Krankheitslast berechnet. Für diese Zahl werden nicht nur die Todesfälle berücksichtigt, sondern unter anderem auch, wie schwer eine Erkrankung verläuft. Die Forscher haben entdeckt, dass ein großer Teil der Infektionen, nämlich 39 Prozent, durch Bakterien verursacht werden, die gegen sogenannte Reserveantibiotika resistent sind. Das ECDC 2 nennt diese Zahl „beunruhigend“, denn diese Antibiotika sind eigentlich die letzten verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten. Wenn sogar sie nicht mehr wirken, sei es extrem schwierig oder sogar unmöglich, die Infektionen zu behandeln. Besonders gefährdet an multiresistenten Keimen zu sterben, seien laut der Studie Kinder unter zwölf Monaten und ältere Menschen ab 65 Jahren.
Insgesamt, schreiben die Wissenschaftler, sei „die geschätzte Belastung durch Infektionen mit antibiotikaresistenten Bakterien in der EU so groß wie die von Grippe, Tuberkulose und HIV/AIDS zusammen genommen.“
Werden die EU-Länder im Einzelnen betrachtet, lässt sich eine unterschiedliche Belastung der einzelnen Länder feststellen. Am stärksten betroffen war Italien (mehr als 200.000 Infektionen mit antibiotikaresistenten Keimen, mehr als 10.000 Menschen starben), gefolgt von Griechenland. In Deutschland erlitten laut der Studie im Jahr 2015 knapp 55.000 Menschen eine Infektion, fast 2400 starben daran.
Insgesamt am relativ besten zeigte sich die Situation in Nordeuropa: Dänemark, Schweden, Finnland, Norwegen, die Niederlande, Estland und Island belegten mit 27 (Island) bis knapp 5000 (Niederlande) Infektionen und dementsprechend wenigen Toten (1 bis rund 200) die hinteren Plätze der Länder im europäischen Wirtschaftsraum.
Etwa zwei Drittel der Betroffenen stecken sich in Kliniken oder anderen Gesundheitseinrichtungen mit den Keimen an (healthcare-associated infections, HAIs), erläutern die Autoren. Mehr als die Hälfte dieser Fälle sei wahrscheinlich vermeidbar. Verbesserte Maßnahmen zur Infektionsvermeidung und -kontrolle und ein zurückhaltender Einsatz von Antibiotika könnten demnach das Problem deutlich mildern.
Eine aktuelle Untersuchung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat jetzt festgestellt 3: Infektionen mit antibiotikaresistenten Keimen könnten in den nächsten 30 Jahren rund 2,4 Millionen Menschen in Europa, Nordamerika und Australien das Leben kosten.
75 % der prognostizierten Todesfälle könnten demnach durch einfache hygienische Maßnahmen (unter anderem Händewaschen, sinnvollerer Einsatz antimikrobieller Wirkstoffe) vermieden werden. Den OECD-Berechnungen zufolge würde es reichen, dafür pro Jahr und Kopf der Bevölkerung in den OECD-Staaten rund zwei Dollar zusätzlich zu investieren.
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